Wie die Umstellung auf nahezu hierarchielose Selbstorganisation Mitarbeiter zu Partnern und ein Start-up zum erfolgreichen mittelständischen Unternehmen machte.

In den letzten Jahren hört man immer wieder von neuen Theorien und Modellen, wie Unternehmen es schaffen ihre Organisation zu strukturieren, um ihre Mitarbeiter glücklich zu machen und gleichzeitig die Produktivität zu steigern. Während Work-Life-Balance, Selbstbestimmtheit und Agilität bekannte Schlagwörter aus der Organisationstheorie sind, musste ich „Holokratie“ zunächst einmal nachschlagen.

Bei Google finde ich diverse Einträge, viele Grafiken mit Kreisen, Lobeshymnen und vernichtende Kritiken, die das System als unnatürlich und damit nicht durchsetzbar einstufen.

Aber zuerst etwas Theorie: Was ist Holokratie?

Dahinter verbirgt sich eine Organisationsform, die sich durch konsequente Selbstorganisation auszeichnet und Hierarchien gänzlich abschafft. Im Mittelpunkt steht dabei ein übergeordnetes, gemeinsames Ziel, auf welches jeder im Unternehmen hinarbeitet. Um dies zu erreichen verlangt der Ansatz eine starke unternehmens- und themenübergreifende Transparenz sowie vielfältige Rollenbeschreibungen der einzelnen Mitarbeiter. Generalisten anstatt Spezialisten kommen zum Einsatz.

Das hört sich erst einmal spannend an! Um mir ein genaues Bild darüber zu verschaffen, wie das in der Realität aussieht und wie einfach eine Umstellung durchzusetzen ist, spreche ich mit Gabriela Krupa, Self-management Coach bei der mycs GmbH. Die mycs GmbH hatte im November 2020 über 830 Anleger überzeugt und konnte so 1 Mio. Euro Eigenkapital über eine Crowdfinanzierung bei Kapilendo aufnehmen.

Kapilendo: Hallo Gabi. Ihr habt Anfang 2019 den Schritt gewagt, Euch in eine holokratische Organisation zu verwandeln. Was unterscheidet Eure Organisation von den Unternehmen mit klassischem Aufbau?

Gabriela Krupa: Bei uns gibt es zunächst einmal keine Hierarchien im herkömmlichen Sinn. MYCSees [so nennen sich die MYCS Angestellten] sind Partner die auf Augenhöhe agieren und keine klassischen Mitarbeiter. Es gibt keine vordefinierten Positionen, da jeder Partner eine Rolle ausfüllt, die auf seine Stärken ausgerichtet ist und sich mit ihm entwickelt.  Wir organisieren uns nicht in festen Teams, sondern in flexiblen Kreisen. Anstatt jährliche, vordefinierte Feedbackgespräche abzuhalten, arbeiten wir auf häufiges, konstruktives Feedback hin, weil Feedback am besten ist, solange es noch „frisch“ ist.

Kapilendo: Wie seid Ihr auf die Idee gekommen Euch umzuorganisieren und welches Ziel wolltet ihr damit erreichen?

Gabriela Krupa: Christoph [Geschäftsführer der mycs GmbH] hatte im Vorjahr schon mit einem kleineren Team in einem „Testlabor“ mit der Umorganisation begonnen.  Eine wichtige Rolle spielte dabei sein Wunsch Agilität zu gewinnen und durch das gemeinsame Gestalten der Organisation, Spannungen im Team und Machtkämpfe zu unterbinden. Dieser Test war sehr erfolgreich. Die Mitarbeiter waren durch die Selbstbestimmtheit augenblicklich zufriedener und identifizierten sich noch mehr mit MYCS. Die Schwarmintelligenz in Bezug auf die Unternehmensentwicklung führte zu vielen neuen Ansätzen. Aufgaben wurden automatisch selbstständig übernommen, da die Grenzen der Tätigkeitsbereiche verschwammen und plötzlich viel mehr Raum gaben. Aufgrund des einschlagenden Erfolgs, wurde dann das Modell auf die gesamte Organisation ausgeweitet.

Kapilendo: Woran erkennt man die Selbstbestimmtheit in Eurem Arbeitsalltag?

Gabriela Krupa: Jeder MYCSee kann im Rahmen seiner vereinbarten Arbeitsstunden selbst entscheiden, an welchen Tagen, von welchem Ort und an welchen Themen er arbeitet.

Kapilendo: Führt das nicht unweigerlich zu Chaos?

Gabriele Krupa: [Lacht] Nein! Alle Entscheidungen werden im Einklang mit den Bedürfnissen jedes Partners [MYCS Angestellter] getroffen. Das heißt, ich könnte zwar jeden Tag von 20:00 Uhr bis 04:00 Uhr morgens arbeiten. Da sich dies jedoch für die Abstimmungen mit anderen Partnern schwierig gestaltet, organisiere ich mich so, dass es zum Wohle der Organisation ist. Andersherum ist es für jeden Partner auch in Ordnung, dass ich an bestimmten Tagen zu „normalen“ Arbeitsstunden, nicht erreichbar bin. Dabei spielen immer Vertrauen und der gegenseitige Respekt eine große Rolle. Wir alle wissen, dass wir ein gemeinsames Ziel haben. Die entsprechenden Zielkennzahlen werden von allen gemeinsam definiert. So kann sich jeder MYCSee einbringen und fühlt sich über das Jahr verantwortlich die Ziele auch zu erreichen.

Kapilendo: Das klingt so als ob man dafür ganz bestimmte Menschen braucht. Wie findet ihr neue Mitarbeiter, wenn es keine klassischen Stellenbeschreibungen mehr gibt?

Gabriela Krupa: Den letzten MYCSee habe ich im Taxi rekrutiert. [Schmunzelt] Es ist wichtig Menschen an Bord zu haben, bei denen die Denkweise passt. Menschen, die Verantwortung übernehmen möchten, weil sie sich mit den Aufgaben identifizieren und nicht an Titeln festhalten. Menschen, die über den eigenen Tellerrand hinausblicken können und auch die hohen Anforderungen, die solch eine Organisation an sie stellt, aushalten können, um weiter zu wachsen.

Kapilendo: Wie lange hat die Umstellung gedauert?

Gabriela Krupa: Wir sind noch lange nicht fertig. Ehrlich gesagt, gibt es bei dieser Art der Umstrukturierung auch kein Enddatum. Die Organisation entwickelt sich immer weiter. In unseren regelmäßigen Steuerungs-Meetings kann jeder neue Ideen einbringen und das Unternehmen proaktiv mitgestalten.

Kapilendo: Welche Schwierigkeiten ergeben sich?

Gabriele Krupa: Die grundlegendste Schwierigkeit ist das Aufbrechen der Denkweise bei den Angestellten. Bei einigen müssen jahrelang gelernte Muster neu gelernt werden. Das ist nicht immer leicht.

Zudem gibt es ein sehr umfangreiches Regelwerk. Die Konstitution für die Selbstbestimmtheit ist über 40 Seiten lang. Es gibt viele Regeln, an die man sich im Rahmen der Selbstbestimmtheit halten muss, damit die Zusammenarbeit gut funktioniert. Wichtig sind eine hohe Transparenz und kontinuierliche Kommunikation. Das nimmt natürlich viel Zeit in Anspruch. Aber die Erfahrung zeigt, je besser die Kreise kommunizieren, umso erfolgreicher arbeiten sie.

Kapilendo: Welche drei Erkenntnisse würdest du aus der Umstellung weitergeben?

Gabriele Krupa: 

  1. Nehmen Sie Ihre Mitarbeiter bei der Entscheidungsfindung mit und überstürzen Sie nichts! Der holokratische Ansatz basiert auf Selbstbestimmtheit auf die Macht der eigenen Stimme und darauf gemeinsam Großes zu erreichen. Daher ist es wichtig, dass jeder Mitarbeiter direkt bei den ersten Überlegungen mit einbezogen wird, um gehört zu werden. Für viele Menschen im Unternehmen wird dies ein komplett neuer Ansatz sein, mit dem sie sich zunächst auseinandersetzen müssen. Nehmen Sie sich daher Zeit und zeigen Sie die Vorteile dieses Modells in kleinen Schritten.
  2. Lassen Sie sich nicht entmutigen! Eine Umstellung passiert nicht über Nacht. Die Entscheidung die Struktur so maßgeblich zu verändern, erfordert viel Zeit und Geduld. Und ja, das führt vielleicht am Anfang sogar dazu, dass Sie den ein oder anderen Mitarbeiter verlieren. Die Hauptaufgabe in der Phase der Umstrukturierung besteht darin die Denkweise der Mitarbeiter zu ändern. Sie zu motivieren selbst Verantwortung zu übernehmen und ihnen zu zeigen, wie sie damit zum Unternehmenserfolg beitragen.
  3. Suchen Sie Unterstützung von Experten! Natürlich kann man sich zur Holokratie selbst viel anlesen. Eine Umstellung ist jedoch so vielschichtig, dass ich empfehlen würde dies unbedingt gemeinsam mit einem Experten für Unternehmensumstrukturierung anzugehen, der in diesem Bereich Erfahrung an. Investieren Sie in einen Berater oder stellen Sie jemanden ein, der dieses Thema annimmt und der Theorie Leben einhaucht.

Kapilendo: Wenn du in einem Satz zusammenfassen müsstest, was dein Rat an andere Unternehmen ist, die sich mit einer selbstbestimmten Unternehmensorganisation auseinandersetzen – welcher wäre das?

Gabriela Krupa: Es ist nicht leicht – aber es lohnt sich!… solange Sie an das Gute im Menschen glauben und daran gemeinsam mit Transparenz ein übergeordnetes Ziel zu erreichen.

Kapilendo: Vielen Dank für das Gespräch. Wir wünschen Ihnen für die Zukunft viel Erfolg!

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